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Aktuelles Urteil: Einschränkung von Arbeitnehmerrechte bei Massenentlassungen

9. Aug 2023

Die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Behörden in einem frühen Stadium beabsichtigter Massenentlassungen Informationen darüber mitzuteilen, hat nicht den Zweck, den Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Fehler im Rahmen der Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) führen daher nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung (Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urt. v. 13.07.2023, Az.: C-134/22).

Der Sachverhalt

Der Kläger war bei einer Arbeitgeberin beschäftigt, über deren Vermögen am 01. Oktober 2019 ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde.

Am 17.01.2020 wurde beschlossen, die Geschäftstätigkeit der Arbeitgeberin bis spätestens 30.04.2020 einzustellen und Massenentlassungen vorzunehmen. Es sollten mehr als 10 % der 195 Arbeitnehmer entlassen werden.  Ebenfalls am 17.01.2020 leitete das Unternehmen das Verfahren zur Konsultation des Betriebsrats ein. Im Rahmen der Konsultation teilte die Arbeitgeberin dem Betriebsrat die gesetzlich vorgeschriebenen Informationen i. S. d. § 17 Abs. 2 KSchG mit. Der zuständigen Behörde – der Agentur für Arbeit Osnabrück – wurde jedoch keine Abschrift dieser schriftlichen Mitteilung zugeleitet.

Nachdem der Betriebsrat am 22.01.2020 keine Möglichkeit sah, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden, wurde die Massenentlassung am folgenden Tag bei der Agentur für Arbeit Osnabrück angezeigt. Daraufhin erhielt der Kläger die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses. Hiergegen erhob er Kündigungsschutzklage vor dem zuständigen Arbeitsgericht.

Der Kläger meint, dass die Agentur für Arbeit entgegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG keine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat erhielt, begründe die Unwirksamkeit der Kündigung.

Die Klage blieb im ersten und zweiten Rechtszug erfolglos. Daraufhin legte der Kläger beim Bundesarbeitsgericht Revision ein. Das Bundesarbeitsgericht setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage, ob Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (MERL, RL 98/59/EG) individualschützenden Charakter habe, zur Vorabentscheidung vor.

Der rechtliche Hintergrund

Im Fall einer anzeigepflichtigen Massenentlassung muss der Arbeitgeber nicht nur eine Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit erstatten (sog. Anzeigeverfahren, § 17 Abs. 1 KSchG), sondern zuvor den Betriebsrat beteiligen (sog. Konsultationsverfahren, § 17 Abs. 2 KSchG). Der Arbeitgeber muss den Betriebsrat rechtzeitig schriftlich, z. B. über Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer usw., schriftlich unterrichten und sich mit ihm beraten.

Weiter regelt § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, mit dem Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL umgesetzt wurde, dass gleichzeitig mit der Unterrichtung des Betriebsrats, d. h. vor der eigentlichen Massenentlassungsanzeige, der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Unterrichtung zukommen zu lassen ist (sog. Übermittlungspflicht).

Nach dem Bundesarbeitsgericht können Verstöße gegen die Pflichten im Rahmen von Massenentlassungen zur Nichtigkeit der Kündigung führen (§ 134 Bürgerliches Gesetzbuch). Um zur Nichtigkeit zu führen, muss die jeweilige Bestimmung den Zweck verfolgen, den von dem Massenentlassungsverfahren betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Die Bestimmung muss also individualschützende Wirkung haben.

Die Entscheidung

Der EuGH entschied, dass ein Verstoß gegen die Richtlinienvorschrift (Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL) nicht den Zweck verfolgt, den von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.

Die Übermittlung von Informationen des Betriebsrats an die zuständige Behörde dient nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken. Der Behörde wird ermöglicht, sich über die Gründe der geplanten Entlassungen, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, einen Überblick zu verschaffen. Hierdurch kann sie die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abschätzen und, wenn ihr diese Entlassungen angezeigt werden, in effizienter Weise nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme suchen.

Ferner ist die Behörde nur die Adressatin einer Abschrift. Ihr ist dahingehend keine aktive Rolle zugewiesen. Im Übrigen setzt die Übermittlung der Abschrift weder eine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang noch schafft sie eine Verpflichtung der zuständigen Behörde.

Für die Praxis

Die Entscheidung des EuGH wird dazu führen, dass das Bundesarbeitsgericht aufgrund eines Verstoßes gegen die Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG die Kündigung nicht als unwirksam erachten wird. Die Unterrichtungs- und Beratungspflicht gegenüber dem Betriebsrat bleibt hiervon allerdings unberührt. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts führt ein Verstoß zur Unwirksamkeit der Kündigung.

Pressestelle
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